Eigentlich wollte ich schon vor einer Woche das Buch „Tokyo Tokyo“ von WassinkLundgren alias Thijs groot Wassink und Ruben Lundgren vorstellen, doch als die schrecklichen und unfassbaren Ereignisse in Japan geschahen, war mir eine Zeit lang nicht so nach japanischen Fotobüchern – selbst, wenn sie so außergewöhnlich sind wie dieses. Da ich aber auch nicht aufgrund einer Naturkatastrophe ein Buch nicht vorstellen will, hole ich dies hiermit nach.

Das Duo WassinkLundgren kenne ich seit ihrer Serie „Empty Bottles“, die ich im Rahmen der Martin Parr-Ausstellung „Paarworld“ im Haus der Kunst in München 2008 gesehen habe. Lustigerweise besuchten Nadine und ich ein halbes Jahr später Barbara J. Scheuermann in Berlin – und schliefen in ihrem Ausstellungsraum Babusch, in dem gerade genau diese Serie gezeigt wurde. Es war sehr schön und eindrucksvoll, in der Wandinstallation von „Empty Bottles“ einzuschlafen und wieder aufzuwachen.

Nun haben die beiden Niederländer, die in London und Peking leben, ihr neues Buch „Tokyo Tokyo“ (Kodoji Press, 192 Seiten, 32 Euro) vorgestellt, für das sie die Fotos vollkommen „paritätisch“ gemacht haben, denn sie fotografierten die selbe Person im selben Moment – aber aus zwei verschiedenen Perspektiven. Technisch betrachtet gehe ich mal davon aus, das mit dem Auslösen der einen Kamera auch die andere ausgelöst wurde, aber das ist zweitrangig. Ihre Diptychen zeigen jedenfalls Menschen auf der Straße: Geschäftsleute und Bauarbeiter, Verkehrspolizisten und Jogger, Rentner und Schüler. Ganz normale Menschen eben, nur immer zweimal zur gleichen Zeit fotografiert – meist einmal von links und einmal von rechts, aber auch mal von vorne oder von hinten.

Manchmal ist die Person auf dem einen Foto im Bildmittelpunkt während sie im anderen an den Rand gedrückt und angeschnitten wurde oder überhaupt nicht zu sehen ist. Entsprechend verändert sich damit auch das Umfeld: Wirkt es hier ruhig und geordnet, ist es dort chaotisch und laut. Objekte und Motive ragen in das Bild hinein, die in dem anderen nicht vorhanden waren, und geben zusätzliche Informationen. Zu meinen Lieblings-Gegenüberstellungen gehört das Bild vom ergrauten Arbeiter im Blaumann, der an einem Laternenpfahl lehnt. Auf dem rechten Bild schaut er direkt in die Kamera, die Komposition ist klassisch und das Bild wirkt fast wie inszeniert. Im linken Foto ist er im Profil zu sehen. Er lehnt quasi gegen den Bildrand, die Klappe seines Autos steht offen und er merkt gar nicht, dass er auch von dieser Seite fotografiert wird. Häufig fragt sich der Betrachter, wo genau der andere gerade stand, um diese Aufnahme zu machen. Hin und wieder verraten die Schatten auf dem Boden die Position, und einmal ragt sogar das Objektiv des anderen ins Bild hinein, doch meist bleibt es der Fantasie des Betrachters überlassen.

Andrew Phelps hat die Fotos auf seinem Blog „Buffet“ als „Street Photography in 3D“ bezeichnet, was ich einen schönen Vergleich finde. Gleichzeitig geht es in den Bildern aber weniger um außergewöhnliche Situationen, die man normalerweise mit der Street Photography verbindet, und schon gar nicht um den überstrapazierten „entscheidenenden Augenblick“ eines Henri Cartier-Bresson. Im Gegenteil – der wird hier eher ein wenig auf den Arm genommen und entmystifiziert, denn der „entscheidende“ ist immer auch ein „streng subjektiver Augenblick“ – ein anderer Fotograf würde die gleiche Situation anders wahrnehmen, zumindest aber garantiert ein anderes Bild abliefern. Das ist mir persönlich schon häufig passiert, und jedes Mal war das Erstaunnen (und manchmal auch der Frust) auf beiden Seiten groß.

Diese Erkenntnis vom „subjektiven Sehen“ in der Fotografie mag vielleicht banal klingen – aber WassinkLundgren haben dieses Thema sehr konsequent visualisiert. Und dazu auch noch auf eine sehr unterhaltsame und humorvolle Art und Weise.

Links: WassinkLundgren, Kodoji Press, Babusch, Buffet