Transit - Chorweiler x Kollwitz (2022)
Der Kölner Stadtteil Chorweiler wurde als Utopie des sozialen Wohnungsbaus für ursprünglich bis zu 100.000 Menschen entworfen. In dieser Neuen Stadt sollten sie ab 1972 auf engem Raum wohnen und arbeiten und mit einem eigenen Einkaufszentrum sowie einem umfangreichen Angebot an Freizeitmöglichkeiten und sozialen Einrichtungen ausgestattet werden.
Doch bereits seit den 80er Jahren wird Chorweiler meist als Problem-Stadtteil wahrgenommen: Die spektakuläre Skyline aus häufig heruntergewirtschafteten Hochhäusern steht als Metapher für überdurchschnittlich hohe Arbeitslosen-, Migranten- und Kriminalitätsraten.
Chorweiler ist aber auch ein Stadtteil der Kinder: Nirgendwo anders in Köln ist der Anteil der Unter-18-Jährigen höher als hier. Gleichzeitig sind sie aber auch in keinem anderen Stadtteil so stark von Armut betroffen: Jedes zweite Kind lebt in einer Familie, die Hartz IV bezieht, und nur jedes fünfte besucht in Chorweiler ein Gymnasium. In Köln-Ehrenfeld ist es jedes zweite.
Im Sommer 2022 bin ich nach mehr als 20 Jahren in meine alte Heimat Chorweiler zurückgekehrt, um fast 50 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu treffen und zu porträtieren. Sie stammen alle aus dem Umfeld von Outline e.V., einer Kreativwerkstatt im Herzen des Stadtteilsunter der Leitung von Puya Bagheri und gefördert von der Karl-Arnold-Stiftung. Hier kommen sie mit der Hip-Hop-Kultur in Berührung, lernen zeichnen, malen und sprühen und können im hauseigenen Tonstudio Musik aufnehmen. Manche Jugendliche sind bereits seit vielen Jahren dabei und auf dem Weg, ihre Talente auch beruflich zu nutzen. Für andere ist Outline hingegen einfach ein wichtiger Anlaufort, um mit Kultur und Kreativität in Berührung zu kommen.
(Selbst-)Porträts
Als Puya mich fragte, ob ich Kinder und Jugendliche aus seiner Kreativwerkstatt Outline e. V. porträtieren könnte, ahnte ich nicht, dass mich dieses Projekt zu meinen eigenen Wurzeln führen würde. Auch ich bin in Chorweiler aufgewachsen und noch viele Jahre nach meinem Wegzug mit Anfang 20 habe ich meine Herkunft als Manko empfunden.
Nun bin ich mit fast 50 jungen Menschen durch mein altes Zuhause gelaufen, um Orte zu finden, an denen ich sie fotografieren kann: Orte, die sie mögen, an denen sie sich wohl fühlen oder die einfach cool aussehen. Wir sind durch Fenster geklettert und durch defekte Türen gegangen, um auf Hochhausdächer zu gelangen. Wir waren in Parks und auf einer noch nicht eröffneten Sommer-Kirmes, in Straßenschluchten und auf Parkdecks, auf Spielplätzen und auf Balkonen. Viele dieser Straßen, Plätze, Ecken und Häuser kannte ich, weil ich früher selbst dort abgehangen hatte oder an ihnen vorbeigelaufen war. Andere hatte ich noch nie zuvor betreten. Ich habe Veränderungen und Stillstand, Verbesserungen und Verschlechterungen entdeckt. Vor allem aber habe ich Menschen kennengelernt. Menschen, mit denen ich als Kind gerne befreundet gewesen wäre. Und Menschen, um die ich vielleicht einen Bogen gemacht hätte.
Ich habe aber auch gesehen, wie wichtig es für diese Kinder und Jugendlichen ist einen Ort zu haben, an dem sie mit Kunst und Kultur in Berührung kommen. Wo sie ermutigt werden, selbst kreativ zu sein, weil Kunst und Kultur in ihren Familien keine Selbstverständlichkeiten sind. Auch ich musste mir als Kind solche Orte und Menschen immer wieder suchen: Die Stadtteilbibliothek, die Zweigstelle der Artothek im Bürgerzentrum, die Stadtteilzeitung und den netten Apotheker, der zugleich leidenschaftlicher Fotograf war und der mein eigenes Interesse am Medium unterstützt und mich motiviert hat. Sie alle ermöglichten mir neue Perspektiven und neue Zugänge – zu anderen, zur Welt und zu mir selbst.
Automatisch frage ich mich, wie und wo ich mich hingestellt hätte, wäre ich in der Situation der Jugendlichen gewesen. Wie hätte ich mich gefühlt? Wäre ich selbstbewusst oder schüchtern gewesen, neugierig oder verschlossen? Und plötzlich erscheint mir alles ganz klar: Mit jedem dieser Kinder und Jugendlichen mit all ihren sehr unterschiedlichen Facetten und Charakteren, Erfahrungen und Hoffnungen habe ich immer auch ein kleines bisschen mich selbst fotografiert.
Die Ausstellung
Im November/Dezember 2022 konnten Outline e.V. und ich die Porträts in einer multimedialen Installation u.a. mit einer eigens für das Museum gestalteten Graffitiwand, einer Hörstation mit Interviews, Vitrinen mit Blackbooks sowie von den Jugendlichen selbst produzierten Musikvideos im Käthe Kollwitz Museum Köln präsentieren.
Damit wird die wichtige Arbeit von Outline e.V. gewürdigt und auf die Bedeutung von Kunst und Kultur im Leben von Kindern und Jugendlichen hingewiesen. Zudem schlägt das Projekt den Bogen zu Käthe Kollwitz und ihrem Engagement für sozial benachteiligte Menschen - und zwar sowohl zu ihrem Werk als auch zu ihrem Wirken als Menschen im Prenzlauer Berg vor 100 Jahren.
Der Aufbau der Graffiti-Wand im Käthe Kollwitz Museum Köln anlässlich der Ausstellung "Transit - Chorweiler x Kollwitz". Zentrales Motiv ist das Gedicht des 17-jährigen Murtada über seine neue Wahlheimat Chorweiler und es wird ergänzt um verschiedene Elemente aus dem klassischen Graffiti wie Style-Writing, Character und Illustrationen. Gestaltet wurde die Wand von Puya Bagheri und unter Beteiligung der Outline-Schüler Daniel, Eren und Khadija. Die Musik des Clips hat Bahribeatz gezaubert.