Bereits auf dem Cover der Oktober-Photonews hat mich die Serie „Tokyo Compression“ von Michael Wolf sofort angesprochen. Nun ist bei Peperoni Books (28 Euro) das dazugehörige Buch erschienen – und ich finde es großartig. Das liegt natürlich vor allem an den Bildern, denn das Buch selbst ist gestalterisch eher unauffällig: Meist auf Doppelseiten stehen sich die Bilder gegenüber, und viel Platz drumherum gibt es auch nicht – aber warum sollten es die Bilder besser haben als die Menschen, die sie zeigen?

Denn der in Hongkong lebende laif-Fotograf Michael Wolf  hat Menschen in den Zügen der Tokyoter U-Bahn fotografiert. Aber nicht im Stil von Bruce Davidson, Walker Evans, Loredana Nemes oder Bill Sullivan. Wolf hat sich auf den Bahnsteig gestellt und durch die Scheiben die eingepferchten, eingequetschten Menschen in den Waggons festgehalten. Entstanden sind dabei sehr nahe, persönliche und traurige Porträts von Fremden, die für wenige Augenblicke vor seiner Linse erschienen, bevor ihre Reise weiter ging und sie in den dunklen Tunnel der U-Bahn verschwanden. Es sind Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder zurück nach Hause – im Anzug und mit Krawatte, das Mobiltelefon in der Hand und die Kopfhörer im Ohr, während das Gesicht müde gegen die Scheibe gepresst wird. Viele scheinen im Stehen zu schlafen oder zu dösen, als würden sie der unmenschlichen Enge dadurch zumindest mental entfliehen können.

Andere, wenn auch nur wenige, schauen direkt in das Objektiv – aber ihr Blick wirkt nicht überrascht oder gar ablehnend, sondern resigniert und gleichgültig wie der einer Hindu-Kuh: Sie sehen den Fotografen, den Voyeur, der sie in dieser unfreiwillig intimen Situation beobachtet, aber sie wehren sich nicht, weil sie es entweder nicht können, oder aber, weil es ihnen einfach egal ist. Gleichzeitig wird der Blick durch die häufig beschlagenen Scheiben und das herunterlaufende Kondenswasser getrübt – die klaustrophobische Enge wird für den Betrachter fast körperlich spürbar. Doppelt zynisch klingt in diesem Zusammenhang der Warnhinweis auf den Scheiben: „Please take care when the doors open“ – für mich müsste es eigentlich „Please take care when the doors close“ heißen.

Einziger Wehmutstropfen ist die teilweise schlechte technische Bildqualität – einige Bilder wirken pixelig und verrauscht, was ich darauf zurückführe, dass Wolf manche Ausschnitte erst später festgelegt hat und deshalb mit starken Vergrößerungen arbeiten musste. Das ist ein wenig schade, ändert aber dennoch nichts daran, dass Wolf mit „Tokyo Compression“ ein sehr eigenständiger und vor allem emotionaler Zugang zu diesem Thema gelungen ist. Für mich schließt sich dieses Buch deshalb auch kongenial an das erst kürzlich hier vorgestellte How Terry likes his coffee von Florian van Roekel an, das auf eine sehr geschickte Art und Weise den trostlosen Alltag vieler Büroangestellter dokumentiert.