Katja Stuke hat mich beim Düsseldorfer Book Salon auf Hans Gremmen und sein Projekt „The Mother Road“ gebracht. Das sei die beste Arbeit, die bislang mit Google Street View-Bildern gemacht wurde, meinte sie. Ob es tatsächlich die Beste ist, weiß ich nicht, aber ich finde sie ebenfalls großartig, weil sie extrem konsequent weitergedacht ist. Und weil sie nicht auf das Außergewöhnliche in den Bildern setzt wie beispielsweise Michael Wolf oder Jon Rafman oder auf das Alltägliche wie bei Doug Rickard, die dafür tage-, wochen- und monatelang das Internet durchstöbert haben.

Hans Gremmen hat auch viel Zeit mit Google Street View verbracht. Vielleicht sogar mehr Zeit als die drei Obengenannten zusammen. Aber er war nicht auf der Suche – er hatte die Bilder bereits gefunden und musste sie nur noch abfotografieren beziehungsweise … ja, wie heißt das überhaupt? „Screenshotten“? Denn der Niederländer ist die komplette Route 66 virtuell „nachgefahren“ – Stück für Stück, Bild für Bild, Mausklick für Mausklick. Vier Monate lang jeden Abend für ein paar Stunden. 151.000 Mal hat er dabei den Bildschirm kopiert, die Bilder aneinander gereiht und zu einer Art Stop-Motion-Film verarbeitet. Was für eine Fleißarbeit! Vor allem aber hat Gremmen das „Prinzip Street View“ ins Gegenteil verkehrt: Aus Fotos, die beim Fahren entstanden sind, macht er eine Fahrt, die aus Fotos entsteht.

Dabei passiert etwas spannendes: Die wohl emotional und mythisch aufgeladenste Straßenverbindung in den USA wirkt in diesem virtuellen Roadmovie vollkommen trivial und beinahe ermüdent trist. Der Zauber von Freiheit und Pioniergeist, der der Route 66 bis heute innewohnt, ist längst verflogen und wird bei Gremmen zusätzlich entzaubert, indem man die Reise auf der auch als „Mother Road“ oder „America’s Mainstreet“ bezeichneten Strecke nun bequem vom Wohnzimmersessel aus machen kann – und die virtuelle Kompassnadel in der oberen Bildecke tanzt dazu. Die Freiheit besteht im Jahr 2013 also nicht darin, als einsamer Wolf auf einem Motorrad quer durch die USA zu reisen, sondern sich im Internet alle Informationen zu beschaffen, die einem zur Verfügung gestellt werden. Aber auch das kann ein sehr einsames Unterfangen sein.

Ob man sich „The Mother Road“ tatsächlich komplett anschaut, ist bei einer Filmlänge von über fünf Stunden fraglich. Aber man könnte es, denn Gremmen hat den Film auf zwei DVDs gebannt. Weil es zudem noch ein zwölfseitiges Booklet gibt, gilt das fertige Produkt übrigens als Buch und nicht als DVD, was den ermäßigten Steuersatz zur Folge hat. Aber auch mit dem vollen Satz wäre „The Mother Road“ noch erschwinglich – die beiden DVDs sind in einer 1000er Auflage erschienen und kosten gerade einmal 12 Euro.

Link: Hans Gremmen