Wann ist ein Porträt ein Porträt? Kann man einen Menschen überhaupt porträtieren? Oder zeigt man als Fotograf letztlich doch immer nur sich selbst?

Das sind Fragen, mit denen ich mich immer wieder beschäftige, und im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass es auch andere Fotografen tun (vor allem im Gegensatz zu den meisten Nicht-Fotografen, die sich schon mehrfach in meiner Gegenwart gewundert haben, dass diese Frage für Fotografen überhaupt so wichtig ist).

Einer von ihnen ist Michael Wesely – zumindest ist das EIN Aspekt seiner Arbeit. Er geht immer den Abbildungsmöglichkeiten des Mediums Fotografie auf den Grund und bedient sich dabei konsequent dem Mittel der Langzeitbelichtung. Manchmal macht er dadurch Veränderungen sichtbar, die erst während eines ungewohnt langen Zeitraums entstehen wie beispielsweise das Verblühen von Blumen in einer Vase oder die städtebaulichen Veränderungen auf dem Potsdamer Platz in Berlin (wofür er seine Bilder bis zu 34 Monate lang belichtet hat!).

In dem nun erschienenen Buch „Portraits 1988 – 2013“ sind seine Menschenbilder aus den letzten 25 Jahren versammelt. Fünf Minuten hat er jedes einzelne Bild belichtet, in Ausnahmefällen sogar 20 Minuten. In dieser Zeit durften sich die Personen nicht bewegen – zumindest dann, wenn sie möglichst scharf und „realistisch“ abgebildet werden wollten. Weil das niemand schafft, schauen wir den Abgebildeten ins Gesicht und finden dort meist bloß ein schemenhaftes Etwas ohne erkennbare Gesichtszüge.

Was wird plötzlich wichtig, wenn wir kein Gesicht mehr sehen? Und welche Veränderungen, und seien sie noch so klein und unbedeutend, werden sichtbar? Man sieht, dass jemand das Standbein gewechselt hat oder dass die Kinder auf dem Schoß unruhig wurden. Vielleicht bekam jemand Rückenschmerzen, vielleicht musste er auch einfach nur gähnen. Gleichzeitig schenkt man den Details drumherum (mehr) Aufmerksamkeit – vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch einfach aus Neugier, weil man etwas über die Person wissen will, die man sieht und doch nicht erkennen kann. Man betrachtet die Kleidung ud die Umgebung, sieht Bücherregale oder Sessel, Privat- oder Geschäftsräume und beginnt, sich über diesen Umweg ein Bild zu machen.

Thomas Struth ist das Thema in seinen Video-Porträts, in denen die Personen eine quälende halbe Stunde lang ruhig sitzen oder stehen und dabei in die Kamera schauen sollten, genau andersherum angegangen: Auf den ersten Blick glaubt man, man sehe ein Foto. Erst danach realisiert man, dass es ein Bewegtbild ist, dass scheinbar zum Stillstand gekommen ist. Bei Wesely ist es umgekehrt: Das Standbild gerät in Bewegung. Was beide, Wesely und Struth, vereint, ist, dass sie mit den Erwartungen des Betrachters genauso wie mit den Möglichkeiten des jeweiligen Mediums spielen. Und beides auf eine unheimlich intensive und auch ästhetische Art.

Das Buch „Portraits 1988 – 2013“ ist im Distanz Verlag erschienen. Es hat 368 Seiten und kostet 44 Euro. Außerdem zeigt die Galerie Fahnemann in Berlin noch bis zum 15. Februar die Ausstellung „Another pencil of nature“ von Michael Wesely.

Link: Distanz, Fahnemann